Die Pilsener Philharmonie spielte im Rahmen der Richard-Strauss-Tage 2023 am 17. Juni 2023 unter Rémy Ballots Dirigat Macbeth und Vier letzte Lieder von Richard Strauss, Felix Mendelssohn Bartholdys Symphonie Nr. 3, die Schottische Symphonie, und Robert Volkmanns Ouvertüre zu Shakespeares Richard III. Es sang Sarah Marie Kramer (Sopran).
„Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, und jeder geht zufrieden aus dem Haus“, möchte man mit Goethe über das Programm der diesjährigen Richard-Strauss-Tage in Garmisch-Partenkirchen sagen. Unzweifelhaft den Höhepunkt bildete das Symphoniekonzert der Pilsener Philharmonie unter Leitung Rémy Ballots am 17. Juni, doch war es eingebettet in eine ganze Reihe weiterer Veranstaltungen unterschiedlichster Art, welche man zwischen dem Eröffnungskonzert am 14. und dem „Ausklang“ am Abend des 18. Juni im Wahlheimatort des Komponisten erleben konnte. „Musikwanderungen“ in und um Garmisch-Partenkirchen boten den Besuchern Gelegenheit, sich mit der Landschaft vertraut machen, vor deren Hintergrund seit 1908 der größte Teil des Straussschen Schaffens entstand. Ein Theaterprojekt des Werdenfels-Gymnasiums setzte sich mit der Oper Ariadne auf Naxos auseinander. Ein Liederabend des Tenors Andreas Schager und der Pianistin Donka Angatscheva kombinierte Strauss mit Schumann und Wagner. Die Wiener Kammersymphonie stellte Auszüge aus Straussens Bürger als Edelmann und Tanzsuite nach Couperin Werken von Schreker, Mahler und Korngold gegenüber. Im Eröffnungskonzert der Musikkapelle Partenkirchen und im Platzkonzert des Gebirgsmusikkorps der Bundeswehr fanden sich Blasorchesterstücke des Garmischer Meisters neben Militär- und Populärmusik seiner und unserer Zeit wieder. Zwei Kabarettnachmittage lockerten das Festprogramm humoristisch auf.
Ein ausgesprochenes Motto war dem Symphoniekonzert nicht beigegeben, doch die Zusammenstellung der Werke verriet, daß man es mit einem Programm zum Thema „Krieg und Frieden“ zu tun hatte. Zwei Programmmusikstücke, denen entsprechende Handlungen ausdrücklich zugrunde liegen, Straussens Macbeth op. 23 und Robert Volkmanns Ouvertüre zu Shakespeares Richard III. op. 68, umrahmten mit Felix Mendelssohn Bartholdys Schottischer Symphonie op. 56 ein Werk, das zwar vorrangig als romantisches Portrait schottischer Landschaft und schottischen Nationalcharakters angesprochen werden kann, jedoch im letzten Satz, ursprünglich „Allegro guerriero“ betitelt, durchaus kämpferische Töne anschlägt und mit einer Coda schließt, die sich als „Friedenshymne“ charakterisieren lässt. Den Schluss des Abends bildeten die Vier letzten Lieder von Richard Strauss, gesungen von der kanadischen Sopranistin Sarah Marie Kramer, mit welchen nicht nur die britischen Inseln, sondern auch die kriegerische Thematik verlassen wurden. Man erlebte diese letzte vollendete Arbeit des Komponisten – Strauss schrieb sie 60 Jahre nach dem Macbeth – im Kontext des Programms also als das, was sie rein entstehungsgeschichtlich in der Tat ist: als Nachkriegsmusik.
Rémy Ballot hat sich in den vergangenen Jahren vor allem als Dirigent der Bruckner-Tage (sein bei Gramola erscheinender Bruckner-Zyklus nähert sich der Vollendung) sowie an der Spitze des Klangkollektivs Wien mit Werken der Wiener Klassiker einen guten Namen gemacht. Umso interessanter war es, ihn nun mit Repertoire abseits dieser beiden Schwerpunkte zu erleben. Man geht gewiss nicht fehl, Ballot einen der form- und strukturbewusstesten Musiker unserer Tage zu nennen. Sein Dirigieren ist schlicht funktional und lässt „choreographische“ Elemente ganz bei Seite. Umso wichtiger ist ihm der stetige Kontakt zu den einzelnen Mitgliedern des Orchesters. In der Tat macht er aus ihnen allen instrumentale Choristen, die um die Bedeutung ihrer Stimme im Zusammenhang wissen, aufeinander hören, miteinander im Dienste der Gesamtwirkung agieren können, sodass es nicht Wunder nimmt, dass unter seinem Dirigat die Melodiebögen in langem Atemzügen auszuschwingen pflegen, und der Darstellung des Geflechts kontrapunktischer Stimmen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Kunst, die einzelnen Momente einer musikalischen Handlung in ihrer Einzigartigkeit auszukosten und zugleich das Ganze im Blick zu behalten, das Geschehen zum Ziel zu führen, beherrscht Ballot wie nur wenige unter den Heutigen. Sehr schön zeigte sich dies gleich anhand des Macbeth. Der Vorschrift „un poco maestoso“ trug er mit einem relativ breiten Grundtempo Rechnung, das optimal dazu geeignet war, bei den martialischen Themen des Titelhelden den Eindruck einer ehrfurchtgebietenden, finsteren Gestalt aufkommen zu lassen. Ebenso wurde der einschmeichelnden Melodik der Lady Macbeth genug Raum zur Entfaltung geboten. In der zweiten Hälfte des Stücks, worin Macbeth seine gewonnene Krone in minutenlangen, lautstarken Kämpfen mit zahlreichen nach oben schießenden Motivsequenzierungen verteidigen muss, erlebte man, wie das Pulver nicht vorschnell verschossen, sondern durch kluge Dosierung der Kräfte immer noch eine Möglichkeit der Intensivierung gefunden wurde. Zugleich wurde deutlich, welch ein großartiger Meister der Orchesterpolyphonie Strauss schon in dieser frühesten seiner Tondichtungen gewesen ist. Die sorgfältige Darbietung des kontrapunktischen Gefüges verlieh auch dem Festmarsch in der Mitte den nötigen Prunk und ließ die bläserbetonte, leise Episode mit dem choralartigen Einwurf der hohen Streicher (bei etwa ¾ der Spieldauer) zu einem heimlichen Höhepunkt des Werkes werden – manchmal sind Strauss und Bruckner einander gar nicht so fern.
In der Schottischen Symphonie fesselten sofort die Zartheit der einleitenden Takte und die sorgfältige Phrasierung, mit der die anschließenden Sechzehntelfiguren der Violinen zum Sprechen gebracht wurden. Ein besonderes Augenmerk legte der Dirigent offenbar auf die Hervorhebung instrumentatorischer Feinheiten. Nicht nur der Nachvollziehbarkeit der thematischen Arbeit kam dies zugute, etwa wenn in der Durchführung des Scherzos das Hauptmotiv fröhlich durch die verschiedenen Orchestergruppen jagt. Auch Phänomene rein klangfarblicher Natur kamen trefflich zur Wirkung. Wann hört man beispielsweise die Farbtupfer der Trompeten im letzten Satz nach Buchstabe E einmal so deutlich? Ganz hervorragend gelang Ballot die Coda des Finales. Die ungewöhnliche Gestaltung dieses Schlusses, in welchem Mendelssohn nicht nur zu Gunsten eines neuen Themas auf die Verwendung der Hauptgedanken des Satzes verzichtet, sondern ihn auch vom vorangegangenen Hauptteil durch ein langes, auskomponiertes Diminuendo deutlich abgrenzt, birgt die Gefahr in sich, dass die Coda als unorganisches Anhängsel erscheint, gelingt es dem Dirigenten nicht, den Übergang schlüssig darzustellen. Ballot bannte die Gefahr, hielt die Spannung aufrecht und ließ sie sich schließlich in den A-Dur-Hymnus hinein auflösen, der somit als Zielpunkt der ganzen Symphonie erschien. Auch die Klangfarbenarbeit feierte wieder einen Triumph. Mendelssohn wünscht hier, wie die Vorschrift „marcato assai la melodia“ zeigt, keineswegs einen glatten, geschmeidigen Vortrag. Zugleich muss es, dem Charakter der Melodie gemäß, kantabel klingen. Durch konsequente Umsetzung dieser Vorgaben gelang Ballot und den Pilsenern ein feierlicher Dankgesang aus rauen Highlander-Kehlen.
Volkmanns Ouvertüre zu Richard III., ein im 19. Jahrhundert viel gespieltes Werk, für das sich auch später noch große Dirigenten wie Carl Schuricht und Gennadij Roshdestwenskij einsetzten, bot nach Strauss und Mendelsohn eine dritte, nicht minder interessante Darstellung von „Krieg und Frieden“. Mendelssohn lässt dem „kriegerischen“ Allegro des letzten Satzes einen strahlenden Hymnus folgen, während Strauss nach dem Untergang von Lord und Lady Macbeth ihre Gegner mit Fanfaren in der Ferne Sieg und Frieden feiern lässt, bevor in den letzten Takten ein Motiv, das man das „Motiv des Ehrgeizes“ nennen kann, den Hörer erneut anspringt und davon zu künden scheint, dass der nächste Gewaltherrscher schon in den Startlöchern steht. Auch bei Volkmann fehlen die Fanfaren nicht, die, nach einer düsteren Einleitung und einer für ein Werk von 1871 geradezu expressionistischen Schlachtenmusik, das Ende des Krieges verkünden. Ein verhalten-sublimes Adagio, den langsamen Sätzen des späten Beethoven stil- und geistesverwandt, schließt sich an, mit dem das Werk still ausklingt. Auf diesen Schluss hin entwickelte Ballot das Geschehen und fasste damit die stark kontrastierenden Teile dieser Symphonischen Dichtung (als welche man die Ouvertüre sehr wohl bezeichnen kann) unter einem großen Spannungsbogen zusammen.
An die beruhigte Stimmung des Volkmannschen Schlusses konnten nun Straussens Vier letzte Lieder direkt anknüpfen. Diese Stücke sind vom Mythos des großen Abschiedswerkes umwoben. Ich kann sie weder einen traurigen, noch wehmütigen Abschied nennen, als welcher die wenig älteren Metamorphosen durchaus erschienen wären, hätte Strauss mit ihnen sein Gesamtwerk beschlossen. Verglichen mit diesem im Schaffen des Komponisten raren Bekenntnis persönlicher Betroffenheit wirken die Lieder emotional distanziert – oder, wenn man anders formulieren möchte: wie Dokumente eines, der sich wieder gefangen hat. Und so verabschiedet sich Strauss als der, als den man ihn aus dem Großteil seiner früheren Werke kennt: als Genussmensch und virtuoser Klangzauberer. Die Aufführung ließ so recht deutlich werden, mit welchem Feinsinn Strauss seine Ideen auf das Orchester verteilt, welche Lebendigkeit in den einzelnen Klanggruppen herrscht und wie sie einander wechselseitig beleuchten. Sarah Marie Kramer begegnete den hohen Anforderungen an ihre Partie mit stupender Meisterschaft und unerschöpflicher stimmlicher Energie, wirkte inmitten der von Ballot fein abgestuften Orchestermassen als die kräftig pulsende Hauptschlagader des Ganzen. Ein würdiger Abschluss eines großartig gelungenen Konzerts!
[Norbert Florian Schuck, Juni 2023]